Ruhe des Geistes

In der ruhigen Objektivität des Forschens liegt bereits ein wichtiger Schritt, die Ruhe des Geistes zu finden. Auch gegen spielerisches Erforschen ist überhaupt nichts einzuwenden. Doch im Alltag – auch im wissenschaftlichen Alltag – spielt nicht ein souveränes, aufgeklärtes Bewußtsein, sondern ängstigt sich ein von tausend suchenden Gedanken hin- und herjagendes Ich, eingekeilt zwischen Hoffnung und Furcht, bewegt durch das Nichtwissen um die eigene, leere Natur. Erst wenn diese Leere entdeckt wird, kann es ein Vertrauen in die eigene Natur geben, das sehr viel mehr zählt als alle vergänglichen Gewißheiten der Wissenschaften. Der chinesische Zen-Meister Linji sagt: “Euch fehlt das Selbstvertrauen, darum ist euer Geist immerzu auf der Suche. Ihr sucht kopflos euren eigenen Kopf, könnt euch keine Ruhe gönnen.” Was die Wissenschaftler in ihrer Suche finden – das Gehirn, Evolutionsprozesse oder die Formel, die alles erklären soll – ist zweifellos wichtig und kann viele Funktionen erfüllen; zugleich sind diese Erkenntnisse die sichere Bürgschaft, die Ruhe des Geistes, die Leerheit, zu verfehlen. Denn es gilt, was Novalis sagt: “Dem Geist ist Ruhe eigentümlich.” Eben deshalb kann keine wissenschaftliche Erkenntnis die wirklichen Lebensfragen (Glück, Vergänglichkeit, Leiden, Tod) beantworten.

Karl-Heinz Brodbeck, Der Zirkel des Wissens, Aachen: Shaker Verlag, 2002, S. 241.